Chronik der Aufklärung (Kapitel 10): November/Dezember 2012 – Weitere geschredderte Akten, Anklageerhebung, NPD-Verbotsverfahren

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6. November 2012: Bei einer weiteren deutschen Sicherheitsbehörde sind Akten vernichtet worden, die möglicherweise im Zusammenhang mit den Ermittlungen zur NSU-Mordserie interessant sein könnten. Der Landesverfassungsschutz Berlin habe am 29. Juni dieses Jahres „aufgrund eines Missverständnisses“ mehrere Akten zum Thema Rechtsextremismus vernichtet, sagte eine Sprecherin der Behörde. Sie fügte hinzu, es gebe keine Anhaltspunkte, dass die Unterlagen Erkenntnisse zum NSU enthalten hätten.
Die genaue Anzahl der in der Berliner Landesbehörde vernichteten Akten ist unklar. Nach bisherigen Erkenntnissen stammen die Unterlagen aus der Zeit vor dem Jahr 2009. Laut der Sicherheitsbehörde sollen darin unter anderem Vorgänge um den Rechtsextremisten Horst Mahler, zum rechtsextremistischen Bandprojekt „Landser“ oder zur „Heimattreuen Deutschen Jugend“ behandelt worden sein.

8. November: Zschäpe soll für die NSU-Morde als Mittäterin vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft erhebt ein Jahr nach Zschäpes Stellung Anklage. Sie sei nicht nur Mitglied des NSU gewesen, sondern an sämtlichen Anschlägen als Mittäterin im Hintergrund beteiligt gewesen, sagte Generalbundesanwalt Range. „Die NSU-Mitglieder verstanden sich als einheitliches Tötungskommando, das seine feigen Mordanschläge aus rassistischen und staatsfeindlichen Motiven arbeitsteilig verübte“, sagte Range. Der Prozess beginnt voraussichtlich im Frühjahr vor dem Oberlandesgericht München.
Die Anklage wirft Zschäpe Mittäterschaft bei sämtlichen Taten des NSU vor: Neun Morde an Bürger mit Migrationshintergrund, den Mordanschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn 2007 und zwei Bombenanschläge in Köln, bei denen mehr als 20 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden. Auch bei den insgesamt 15 Banküberfällen, die der Gruppe zugerechnet werden, sei sie Mittäterin gewesen. Darüber hinaus lautet die Anklage auf Mordversuch wegen der Brandstiftung in der letzten gemeinsamen Wohnung des Trios in Zwickau: Sie habe dabei den Tod einer Nachbarin und zweier Handwerker in Kauf genommen.
Zudem wurden der 37-jährige Ralf Wohlleben und der 32 Jahre alte Carsten S. wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Sie sollen die Pistole des Typs „Ceska 83“ beschafft haben, die bei der Mordserie verwendet wurde. Außerdem wurden André E. (33) und Holger G. (38) als mutmaßliche Unterstützer der Gruppe angeklagt.

Vor dem PUA BT äußern Vertreter des MAD, dass sie nicht verantwortlich für die Einstellung von Soldaten in die Bundeswehr waren und es teilweise bedauern, dass aus ihren Einschätzungen kaum Konsequenzen für die Verdächtigen folgten. Erst ab Ende der 1990er-Jahre galt ein Beschluss, dass Rechtsextreme nicht mehr Zeitsoldaten werden dürfen. Q1

Der Bundestag debattiert die bisherigen Aufklärungsbemühungen. Überwiegend verweisen die Parlamentarier*innen auf eklatante Mängel in der Polizei- und Geheimdienstarbeit. Q1

13. November: Vor dem PUA BY gibt der ehemalige BayLfV-Präsident Forster bekannt, dass seine Behörde in den 1990er-Jahren beim Aufbau des rechtsextremen Thule-Netzes beteiligt war. „Das ist das Ende des klassischen Verfassungsschutzes mit V-Leuten“, sagte er zudem über die Folgen der parlamentarischen Untersuchen. Die Vertreter der Opposition im Ausschuss bezweifeln unter anderem die Darstellung, der VfS habe keine Kontakte zum NSU gehabt.  Q1 Q2

Es wird bekannt, dass das BayLfV seit 2010 ein detailiertes Regelwerk für die Führung von V-Personen anwendet. Q1

Sachsen-Anhalts Innenminister Stahlknecht äußert sich kritisch nach einer zusammenfassenden Sitzung des PKG des Landtages: „Mit der nötigen Sensibilität und Professionalität bei Polizei und Justiz hätte man die drei mit nahezu 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit gefunden – möglicherweise noch vor dem ersten Mord, wenn aufgrund der bestehenden Haftbefehle und dieser Erkenntnisse Zielfahnder eingesetzt worden wären“. Q1

14. November: Erst jetzt wird bekannt, dass beim Berliner Verfassungsschutz auch im Jahr 2010 Akten über die Neonazi-Organisation „Blood & Honour“ geschreddert wurden. Sie hätten eigentlich im Landesarchiv aufbewahrt werden sollten. VsBE-Leiterin Claudia Schmid spricht zunächst von einem „bedauerlichen Versehen“ und tritt zurück.

15. November: Innenminister Friedrich eröffnet ein „Abwehrzentrum gegen Extremismus und Terrorismus“ in Köln. Experten von Bund und Ländern sollen dort zusammenarbeiten. Sechs Länder enthalten sich der Mitarbeit.

16. November: tagesschau.de berichtet exklusiv über Details aus der nicht-öffentlichen Anklageschrift des Generalbundesanwalts. Diese umfasst 488 Seiten, mehr als 600 Zeugen werden benannt, fast 400 Urkunden sollen die Anklage stützen, 22 Sachverständige werden zitiert. In dem Verfahren müssen sich ab dem Frühjahr vor dem Oberlandesgericht München fünf Personen verantworten.
Die Anklageschrift betont die politische Dimension der Terrorserie. Der NSU wollte demnach, dass seine Morde als serienmäßige Hinrichtungen wahrgenommen würden, daher sei bei neun Anschlägen die Ceska 83 mit Schalldämpfer benutzt worden. Der Schrecken der Morde sollte noch dadurch erhöht werden, dass die Opfer in Alltagssituationen überrascht und erschossen wurden. Bei allen Morden traten Böhnhardt und Mundlos unmaskiert auf. Nach mehreren Taten fotografierten sie ihre Opfer.
Dass Zschäpe sich auch für die Morde verantworten muss, wird auch auf eine Aussage einer Zeugin aus Nürnberg gestützt. Diese hatte Zschäpe am 9. Juni 2005 in der Nähe eines Tatorts an der Kasse eines Supermarkts gesehen. Zudem sei Zschäpe in die Planung und Vorbereitung involviert gewesen, habe Reisebewegungen getarnt und für Böhnhardt und Mundlos einen sicheren Rückzugsraum geschaffen. Die Taten seien gemeinsam geplant worden, es gab keine Anführer, sondern den gemeinsamen Willen, aus rassistischen Gründen Menschen mit Migrationshintergrund zu ermorden. Q1,

22. November: Im PUA BT räumt der frühere NRW-Innenminister Behrens Fehleinschätzungen ein. „Ich entschuldige mich dafür“, sagte Behrens an Opfer und Angehörige gerichtet. Bei der Befragung geht es um den Nagelbombenanschlag im Juni 2004 in Köln. Damals waren vor einem türkischen Friseursalon in der Keupstraße 22 Menschen verletzt worden. Der Ausschuss will wissen, warum frühe Hinweise auf einen rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Hintergrund nicht weiter verfolgt wurden. Q1

23. November: Es wird bekannt, dass Bundespräsident Joachim Gauck ein Treffen mit den Opferfamilien der NSU-Morde abgelehnt hat. Eine entsprechende Bitte der Türkischen Gemeinde in Deutschland für ein persönliches Treffen zum Jahrestag der Aufdeckung der NSU-Mordserie im November schlug das Bundespräsidialamt nach ARD-Informationen aus. Man möchte von einem solchen Treffen „absehen“, heißt es in dem Schreiben, das dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt. Der Bundespräsident werde die Maßnahmen in der Folge der NSU-Mordserie aber „mit Interesse verfolgen“. Die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer des Neonazi-Terrors, Barbara John, zeigte sich verwundert über Gaucks Absage.
Das Bundespräsidialamt bestätigte den Vorgang. Man plane aber ein Treffen zu einem späteren Zeitpunkt, hieß es als Reaktion auf den Bericht. Einladungen seien allerdings noch nicht ausgesprochen worden, ein Termin noch unbekannt.

29. November: Der frühere Präsident des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), Karl-Heinz Brüsselbach, entschuldigt sich für die „Aktenpanne“. Brüsselbach sagte im PUA Bundestages, er habe bereits im vergangenen März erfahren, dass der MAD schon Mitte der 1990er-Jahre Kontakt zu dem späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos hatte. Er habe das Verteidigungsministerium darüber informiert, nicht aber den Untersuchungsausschuss. „Das war nicht angemessen“, räumte Brüsselbach ein. „Das bedauere ich aus heutiger Sicht.“
Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) kommentierte: „Wenn man nicht wissen möchte, was man wissen könnte, dann verhält man sich so, wie sich der ehemalige Präsident des MAD verhalten hat. Wäre Herr Brüsselbach heute noch im Amt, würde ich seinen Rücktritt fordern.“

30. November: Der frühere Präsident des Bundesnachrichtendienstes, August Hanning, verteidigt die Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden gegen Kritik. Eine pauschale Verurteilung sei trotz der Versäumnisse im Fall der Terrorzelle NSU nicht gerechtfertigt, sagte Hanning im Untersuchungsausschuss des Bundestages. Hanning verteidigte aber die umstrittene Entscheidung von 2006, die Abteilungen für Links- und Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz zusammenzulegen. Der damalige Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm hatte sich gegen die Entscheidung gestemmt.

5. Dezember 2012: Die Innenminister der Länder sprechen sich deutlich für ein neues NPD-Verbotsverfahren aus. NRW-Innenminister Jäger betonte, die angefertigte Materialsammlung enthalte „viele aktuelle Belege, die zeigen, dass die NPD aggressiv-kämpferisch gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung vorgeht und das friedliche Zusammenleben der Menschen in Deutschland gefährdet“, erklärte der SPD-Politiker. „Ein Verbotsverfahren ist ein wichtiges Zeichen, dass unser Rechtsstaat konsequent gegen Verfassungsfeinde vorgeht.“ Der Kampf gegen den Rechtsextremismus müsse auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen entschieden fortgeführt werden. Jäger kritisierte, dass Bundesinnenminister Friedrich immer noch keine klare Position bezogen habe. „Nach sieben Monaten Zusammentragen und Sichten des Materials kann es nun kein Vielleicht mehr geben. Ja oder Nein – das hätte ich auch von Herrn Friedrich erwartet.“
Derweil berichtet der MDR, einer der aktivsten Spitzenfunktionäre der NPD in Thüringen sei V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen. Der frühere Erfurter NPD-Kreischef Kai-Uwe Trinkaus sagte dem MDR THÜRINGEN, dass er unter dem Decknamen „Ares“ fast fünf Jahre lang Informationen aus der rechten Szene und der NPD geliefert habe. Er sei 2010 dann vom Thüringer Landesamt abgeschaltet worden. Trinkaus gibt an, dass er vertrauliche Behördenunterlagen von seinem V-Mann-Führer bekommen habe.

6. Dezember: Vor einer Schweigeminute des Landtages Mecklenburg-Vorpommerns zum Gedenken an die Opfer des NSU verlässt die NPD demonstrativ den Sitzungssaal.

14. Dezember: Ex-Innenminister Schäuble sagt vor dem PUA Bundestag aus: Er sei nicht oberster Polizist der Bundesrepublik, mit den Pannen in Sachen NSU-Mordserie habe er nichts zu tun – und überhaupt habe er alles richtig gemacht.

Der Bundesrat beschließt, vor dem Bundesverfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die NPD zu beantragen.

Stand: 3.5.16


tagesschau.de, 27.08.2013 [18.08.2015] / Patrick Gensing

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