Chronik der Aufklärung (Kapitel 23): März 2015 – „Dem Verfolgungsversagen darf kein Aufklärungsversagen folgen”

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2. März 2015: Im PUA BaWü machen die Angehörigen von Florian H., der sich im September 2013 in Stuttgart mutmaßlich selbst verbrannt haben soll, der Polizei und den Behörden schwere Vorwürfe. Das Opfer war aus der rechten Szene ausgestiegen und soll gewusst haben, wer 2007 Kiesewetter erschoss. Er uns seine Familie seien massiv von Rechtsextremen bedroht worden, erklärte der Vater dem Ausschuss. Dieser ist überzeugt, dass sein Sohn sich nicht selbst verbrannte, denn er habe panische Angst vor Feuer gehabt.

Befragt wird in nicht-öffentlicher Sitzung auch ehemalige Freundin Florian H.s, Melisa M.

3. März: Vor dem Münchner Justizzentrum, in dem der NSU-Prozess stattfindet, demonstrieren am Dienstagmorgen etwa ein Dutzend Neonazis für die Freilassung des Angeklagten Ralf Wohlleben. Der Protest der 100 Gegendemonstranten ist so laut, dass von den Reden der Rechten kaum etwas zu verstehen ist.

4. März: SPD-Parteivize Schäfer-Gümbel fordert eine Fortsetzung des PUA Bundestag: „Dem Verfolgungsversagen darf kein Aufklärungsversagen folgen”. Wie im derzeit laufenden PUA Hessen zu sehen sei, gebe es noch zahlreiche Ungereimtheiten rund um den Kasseler NSU-Mord im Jahr 2006. Der hessische Ministerpräsident und damalige Innenminister Volker Bouffier (CDU) habe zudem persönlich das Geheimschutzinteresse über die Mordermittlungen gestellt, was Verschleierung bedeuten könnte.

Da Zschäpe in der vergangenen Woche erneut krank wurde, lässt Götzl vorläufig nur noch an zwei statt an drei Tagen verhandeln. Auf Antrag Zschäpes hat das Gericht auch die Bild-Regelung deutlich eingeschränkt. So dürfen Bildberichterstatter nur noch am ersten und siebten Prozesstag jedes Monats im Gerichtssaal fotografieren. Zur Begründung verwies das Gericht am Dienstag auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Angeklagten. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) kritisierte diese Entscheidung. Der Richter will Zschäpe verhandlungsfähig halten.

Ein ehemaliger Rechtsextremist aus Jena sagt, er habe den Bau von Bomben für den falschen Weg gehalten, aber aus „Kadavergehorsam“ nicht verurteilt.

9. März: Laut „Südwest Presse“ hatte ein Polizeibeamter, der sowohl in den Ermittlungen zum Tode Kiesewetters und ihres Kollegens in Heilbronn sowie dem vermeintlichen Suizid in Stuttgart beteiligt war, 2001 – also sechs Jahre vor dem Heilbronner Mord – einen Kontakt zwischen einem Polizeikollegen und dem KKK-Ableger in Schwäbisch Hall hergestellt. Sein Bruder habe innerhalb des Geheimbundes zudem eine höhere Stellung eingenommen. Bekannt ist seit längerem, dass zwei Polizisten aus Baden-Württemberg Mitglieder im Ku-Klux-Klan waren – einer davon war Kiesewetters Gruppenführer.

11. März: Als letztes Bundesland führt Baden-Württemberg ein eigenständiges parlamentarisches Kontrollgremium für den Geheimdienst ein, das beschloss der Landtag einstimmig. Außerdem soll ein eigenes Gesetz zum V-Mann-Einsatz erarbeitet werden. Die von der grün-roten Landesregierung versprochene Reform des Verfassungsschutzamtes wird dadurch erstmal auf eine mögliche weiter Legislaturperiode nach 2016 verschoben.

Ein früherer Aktivist von Blood & Honour bestreitet vor Gericht, für den Verfassungsschutz gespitzelt zu haben – obwohl ihm die Behörde eine Aussagegenehmigung erteilt hat. Offenbar will er nicht als Verräter gelten. Ein Verfahren gegen ihn wegen Falschaussage ist möglich.

12. März: Ein weiteres Opfer berichtet am 192. Verhandlungstag vom Anschlag in der Kölner Keupstraße.

Ein früherer Freund von Mundlos erzählt, dieser habe sich zu DDR-Zeiten für die Rote Armee Fraktion interessiert und „wie man untertaucht“.

16. März: Torsten O., Deckname „Erbse“, Ende der 1980er-Jahre Mitarbeiter des LfVBW wird vor den PUA BaWü geladen. Nach früherer Aussage des LfVBW-Mitarbeiters Günter S. vor dem PUA BT solle es bei einem Treffen der beiden im Jahre 2003 um das Thema NSU und Mundlos gegangen sein. Günter S. berichtete im September 2012 Folgendes: Im August 2003 habe er von einem Informanten Hinweise auf eine rechtsextreme Terrorgruppe in Ostdeutschland namens NSU bekommen. Der Informant habe fünf Namen genannt, darunter Mundlos. Seinen Bericht über dieses Treffen habe er im Amt vernichten müssen. Die Namen NSU und Mundlos habe er sich aber merken können. Die Hinweise wurden damals als unglaubwürdig abgetan. O. bestreitet nun vor dem PUA, damals vom NSU gewusst zu haben oder den Begriff genannt zu haben. Ende 2017, nach Verbüßung einer Haftstrafe, gerät O. in den Niederlanden in Abschiebehaft. Q1 Q2

18. März: Der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf bescheinigt vor Gericht dem  Angeklagten Carsten S., er sei im Frühjahr 2000 in seiner Persönlichkeitsbildung beeinträchtigt gewesen. S. könnte demnach noch nach Jugendstrafrecht verurteilt werden.

Die baden-württembergische Polizei ist wegen ihrer Untersuchungen zum angeblichen Suizid eines früheren Neonazis und möglichen NSU-Zeugen Florian H. in die Kritik geraten. Der Vorsitzende des PUA BaWü, Wolfgang Drexler (SPD) sagte, die Schwester des toten H. habe am vergangenen Sonntag noch mehrere Gegenstände in dem Wagen gefunden, in dem ihr Bruder verbrannt ist. Darunter seien der seit langem vermisste Schlüsselbund des Wagens, ein Feuerzeug, eine Pistole und eine Machete. Die Polizei hatte das ausgebrannte Fahrzeug untersucht, diese Gegenstände aber offenkundig übersehen. Die Familie übergab die Gegenstände der PUA.

19. März: Nadja Lüders (SPD), Vorsitzende des PUA NRW, steht wegen möglicher Befangenheit in der Kritik. Sie hat nachträglich eingeräumt, Anwältin des dreifachen Polizistenmörders und mutmaßlichen V-Manns Michael Berger gewesen zu sein. Dieser war in der Dortmunder Neonazi-Szene bis zu den Morden und dem anschließenden Suizid eine feste Größe, und damit Untersuchungsgegenstand des PUA. Das Justizministerium bestreitet, ihn als V-Mann geführt zu haben. In einer auf den 19. März datierten Erklärung von Lüders heißt es, sie habe „im Jahr 1999 Michael Berger in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren anwaltlich vertreten. Dabei ging es um eine Kündigungsschutzklage, die keinerlei politischen oder gar rechtsextremistischen Hintergrund hatte […] nichts mit den im Ausschuss zu untersuchenden Vorgängen zu tun“. Die Arbeit des PUA NRW beschränkte sich bisweilen auf wenige Zeugenvernehmungen. Aktenauswertungen können erst nach der Sommerpause, nach der Fertigstellung entsprechender Geheimschutzräume, beginnen.

Der Bundestag verabschiedet einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Empfehlungen des PUA Bundestag. Die Bundesanwaltschaft soll künftig einfacher und früher als bislang Ermittlungen übernehmen können. Außerdem ist vorgesehen, dass „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe für Verbrechen beim Strafmaß besonders berücksichtigt werden sollen. Dies wird im Strafgesetzbuch ausdrücklich geregelt. Außerdem soll den Rivalitäten, der Geheimniskrämerei und möglicher Fahrlässigkeit zwischen den Geheimdienstbehörden vorgebeugt werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz soll zukünftig bei Gewalttaten auch gegen den Willen einer Landesbehörde auf dessen Gebiet arbeiten und sogar die Ermittlungen an sich ziehen dürfen. Dagegen protestierten die Landesregierungen zwar, aber da das Gesetz nicht im Bundesrat beschlossen werden muss, sind sie formal machtlos. Anders im Bereich der neuen V-Mann-Regeln: Für V-Männer des Bundesamtes gelten zukünftig niedergeschriebene Rekrutierungs- und Einsatzregeln unpräziser Art – unter anderem das Thema erlaubter Straftaten regelnd. Die zentrale Forderung des PUA Bundestag, die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste zu stärken, wurde nicht erfüllt. Es sei überlegt worden, jeden V-Mann-Einsatz von dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags genehmigen zu lassen, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Doch diese Idee habe man als unpraktisch verworfen. Ob die neuen Regeln nun also tatsächlich in der Praxis von den V-Mann-Führern angewandt werden, wird kaum nachprüfbar sein. Die Zusammenarbeit zwischen allen Behörden soll durch die Führung einer gemeinsamen V-Mann-Datei verbessert werden.

20. März: Die Thüringische Landesregierung schaltet das V-Leute-System ab. Nur noch in Ausnahmefällen kann nach Freigabe durch den Ministerpräsidenten ein V-Mann eingesetzt werden. Keine der bisherigen Konsequenzen aus dem NSU-Skandal sind so weitreichend und konsequent wie diese. CDU-Landesinnenminister kritisieren das Vorgehen und bezeichnen V-Männer als unverzichtbar.

23. März: Aufgrund der dem PUA BaWü vorgelegten neuen Beweise im Fall Florian H. führt die Staatsanwaltschaft Stuttgart die im April 2014 eingestellten Ermittlungen weiter.

24. März: Nadja Lüders (SPD), Vorsitzende des PUA NRW, tritt nach anhaltender Kritik vom Vorsitz zurück und verlässt den Ausschuss. Sie verweist als Begründung auf die auf sie abgezielte personenzentrierte Diskussion sowie persönliche Beleidigungen ihr gegenüber. Sven Wolf (SPD) übernimmt den Vorsitz.

25. März: Aufgrund Zschäpes verschlechtertem Gesundheitszustand streicht der vorsitzende Richter Götzl den jeweils dritten Wochen-Prozesstag bis Mitte Mai 2015.

Linke und Grüne im sächsischen Landtag kündigen die Beantragung des PUA Sachsen 2 an.

26. März: Erste Zeugenaussagen zu den beiden Überfälle von Mundlos und Böhnhardt auf eine Sparkasse in Stralsund. Die beiden raubten am 7. November 2006 und am 18. Januar 2007 insgesamt 254.965 Euro. Eine Angestellte berichtet weinend von der Tat und ihren anhaltenden Angstzuständen.

28. März: Melisa M., 20, die Anfang des Monats als Zeugin ausgesagt hatte, wird von ihrem Lebensgefährten mit einem Krampfanfall in ihrer Wohnung aufgefunden. Wenig später stirbt Sie. Als Todesursache wird in den Folgetage festgestellt, dass sie bei einem Motorradunfall sich das Knie geprellt hatte, woraus eine Thrombose entstanden, die schließlich zu einer Lungenembolie führte.

30. März: Die Familie des Verstorbenen Florian H. übergibt dem PUA BaWü unter anderem einen Computer aus Florians Zimmer, zwei Handys sowie einen Speicherstick. Der Ausschuss will die Sachen von einem unabhängigen Sachverständigen untersuchen lassen. Zudem steht die Übergabe eines Laptops und eines Camcorders noch aus. Sie lagen in dem Wagen, in dem Florian im September 2013 verbrannt war.

Während des Ausschusssitzung kommen weitere Ermittlungsfehler im Fall Kiesewetter ans Licht, wobei sich der Verdacht auf weitere Mittäter verstärkt.

Stand: 27.2.18

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