Chronik der Aufklärung (Kapitel 29): Oktober 2015 – Prozess im Endstadium

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2. Oktober 2015: Ein angebliches Opfer des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße, das vom OLG als Nebenklägerin zugelassen wurde, offenbart sich als nicht existent. Der Eschweiler Anwalt Ralph W., der die angebliche Meral K. vertritt, erklärt, Frau K. sei „wahrscheinlich überhaupt nicht existent“. Die „Existenz und Opfereigenschaft“ sei von einem anderen Nebenkläger vorgetäuscht worden. Die türkischstämmige Frau wurde bereits zweimal vorgeladen, erschien jedoch nie, angeblich aus gesundheitlichen Gründen.

W. legt kurze Zeit später sein Mandat nieder und stellt Strafanzeige gegen einen vermeintlichen Vermittler des Kontakts. Bis zur Niederlegung habe der Anwalt etwa 211.000 Euro unter anderem für Honorar und Reisekosten aus der Gerichtskasse erhalten. 2017 wird er zur Rückzahlung der Summe aufgefordert. Im August 2020 beginnt ein Strafverfahren gegen W. vor dem Aachener Landgericht wegen des Vorwurfs des Betrugs und der Urkundenfälschung. Ralph W. bestreitet, bewusst und gezielt betrogen zu haben. Ein anderer, inzwischen verstorbener Nebenkläger habe ihm damals die türkische Mandantin vermittelt und für ihn alle erforderlichen Unterlagen besorgt. Für die Vermittlung soll W. dem Mann eine Provision gezahlt haben. Der 52 Jahre alte Anwalt sieht sich selbst als Opfer. Die Staatsanwaltschaft forderte zuletzt ein Strafmaß von zwei Jahren Bewährungshaft.

Am 30.11.2020 wird W. vom LG Aachen freigesprochen. Als Rechtsanwalt der Nebenklage habe W. zwar gegen viele anwaltliche Sorgfaltspflichten verstoßen und grob fahrlässig gehandelt. Aber Absicht oder Vorsatz seien nicht zweifelsfrei festzustellen. Zudem kenne das Gesezt keinen fahrlässigen Betrug. Das Urteil wird im Juni 2021 rechtskräftig, nachdem die StA die Revisin zurückgezogen hat. Q0 Q1 Q2 Q3 Q4 Q5 Q6

5. Oktober: Vor dem PUA Sachsen-2 berichtet der Bereitschaftspolizist Jörn N. über seinen Fund der Ceska-Pistole am 9. November 2011 in den Trümmern des Zwickauer Hauses. Aufgabe des damaligen Polizeischülers sei es gewesen, den Schutt in Schubkarren zu verladen und zu einem Sammelplatz zu bringen, wo er akribisch durchsucht werden sollte. Schon bald wurde klar, dass es sich um weit mehr als schnöde Gebäudereste handelte: Neben Balken, Brettern und Ziegeln seien auch eine Maschinenpistole und ein Revolver gefunden worden, dazu Gläser voller Schwarzpulver und Schachteln mit Munition. Zusätzliche Sicherungsmaßnahmen wurden nach den brisanten und gefährlichen Funden nicht veranlasst: Weder Hunde noch Metalldetektoren seien eingesetzt worden, sagte N. Die Ceska wurde schließlich gegen Ende des Einsatzes entdeckt: »Was ich für ein Heizungsrohr hielt, entpuppte sich als Schalldämpfer«, sagte N. Um welche Waffe es sich handelte, habe er Tage später nach Zeitungsberichten gewusst: »Da wurde mir klar, das ist was Besonderes.« Unklar bleibt nach der Vernehmung, wie exakt der Fundort der Ceska dokumentiert wurde. Der Zeuge erklärte, er habe zwar selbst kein Foto angefertigt; ein anderer Beamter habe die Situation aber festgehalten. Sobald er das Fundstück als Waffe identifiziert hatte, habe er sie wieder abgelegt und fotografieren lassen.

7. Oktober: 234. Tag. Richter Götzl und zwei Kollegen geraten unter Druck, nachdem bekannt geworden ist, dass es eine Nebenklägerin Keskin gar nicht gibt und der Anwalt des Phantoms sein Mandat niedergelegt hat. Drei der vier Verteidiger Zschäpes zählen nun in einem Antrag die Versäumnisse der Richter auf, die dazu führten, dass 2013 ein nicht existentes Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße als Nebenklägerin zugelassen werden konnte. So unterblieben beispielsweise die von der Bundesanwaltschaft angeregten Nachermittlungen zu der ominösen Keskin, die in keiner Ermittlungsakte auftauchte. Die Anwälte verlangen von Götzl und den zwei beisitzenden Richtern dienstliche Äußerungen. Mit ihrem Vorstoß bringen sich die Verteidiger allerdings auch in Konflikt mit dem neuen, vierten Anwalt Zschäpes. Er sagt, von dem Antrag der drei Kollegen hätten weder er noch Zschäpe vorher Kenntnis gehabt. Götzl fragt nach, geht dann aber zur Tagesordnung über und vernimmt zwei Zeugen.

8. Oktober: Die Verteidiger von Wohlleben nutzen den schwelenden Konflikt zwischen Zschäpes Anwälten und stellen einen Antrag auf Aussetzung des Prozesses. Aus Sicht der Anwälte Wohllebens wird Zschäpe nicht mehr ordnungsgemäß verteidigt, das wirke sich auch auf die Situation ihres Mandanten aus. Die Verteidiger fordern auch, den Haftbefehl gegen Wohlleben aufzuheben. Götzl unterbricht die Verhandlung bis zu dem für die nächste Woche terminierten Prozesstag.

12. Oktober: Zeitgleich zu einer Sitzung des PUA Hessen präsentiert der hessische Innenminister Beuth (CDU) die Ergebnisse einer von ihm eingesetzten Expertenkommission zum NSU-Komplex. Die Ausschussmitglieder können deshalb nicht teilnehmen. Der SPD-Innenpolitiker Rudolph äußerte den Verdacht, der Termin sei „bewusst gewählt, um die Arbeit des Ausschusses zu hintertreiben“. Linken-Obmann Schaus sprach von einer „gezielten Fehlleistung des Ministeriums“. Minister Beuth hatte die Expertenkommission unter Leitung des früheren Wiesbadener Oberbürgermeisters, thüringischen Justizministers und Bundesverfassungsrichters Hans-Joachim Jentsch (CDU) vor anderthalb Jahren eingesetzt. Sie soll Vorschläge unterbreiten, welche Konsequenzen hessische Behörden aus den Ermittlungen zum Terror des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) ziehen müssten. Mitglieder sind neben Jentsch die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD), der ehemalige Berliner Justizsenator Wolfgang Wieland (Grüne) und Hessens Ex-Justizstaatssekretär Rudolf Kriszeleit (FDP). CDU, Grüne und FDP hatten sich bei der Einsetzung des PUA 2014 enthalten und darauf verwiesen, dass die Expertenkommission aus ihrer Sicht hilfreicher sei. Mittlerweile haben Grüne und FDP erklärt, es sei ein Fehler gewesen, dem Untersuchungsausschuss nicht zuzustimmen. Es sei gut, dass es sowohl den Ausschuss als auch die Kommission gebe, heißt es in einer Zwischenbilanz von grüner Landtagsfraktion und Parteiführung zum Thema NSU. Die Expertenkommission kommt zum Ergebnis, dass in Hessen richtige Lehren aus dem Rechtsterror gezogen wurden und auch die Ermittlungen damals in Kassel nicht besser hätten laufen können.

13. Oktober: Der Strafsenat lehnt am 236. Verhandlungstag den Antrag der Verteidiger Wohllebens auf Aussetzung des Verfahrens ab. Götzl verkündet den Beschluss und macht erneut deutlich, dass sich die Verhandlung der Endphase nähert. Aus Sicht der Richter ist die Beweisaufnahme so weit fortgeschritten, dass der von Wohllebens Verteidigern als Grund für eine Aussetzung genannte Konflikt von Zschäpes drei alten Anwälten mit der Angeklagten unerheblich erscheint. Wohllebens Anwälte kontern mit einer Gegenvorstellung. Sie verweisen darauf, dass drei der vier Anwälte Zschäpes im Juli selbst beantragt hatten, die Bestellung als Pflichtverteidiger aufzuheben, weil eine ordnungsgemäße Vertretung Zschäpes nicht mehr möglich sei. Götzl bricht den Verhandlungstag am Mittag ab.

14. Oktober: Die Verteidiger von Wohlleben stellen einen Befangenheitsantrag gegen alle fünf Richter. Zuvor hatte Götzl einen Beschluss verkündet, wonach die „Gegenvorstellung“ der Anwälte zur Ablehnung der von ihnen in der vergangenen Woche geforderten Aussetzung des Prozesses zurückgewiesen wird. Den Befangenheitsantrag begründen die Verteidiger mit dem Vorwurf, die Richter würden nicht erkennen, dass Zschäpe nicht mehr sachgerecht verteidigt werde. Götzl setzt die Hauptverhandlung ungerührt fort und befragt erneut den arrogant auftretenden Rechtsextremisten Mario B., früher einer der Anführer des THS. B. war bereits im Juli als Zeuge aufgetreten. Er gibt an, er habe sich darüber geärgert, dass Zschäpe in den 1990er Jahren in Jena eine Demonstration für eine „Initiative Thüringer Heimatschutz“ angemeldet hatte. Zschäpe sei nicht autorisiert gewesen, für den THS zu sprechen. Außerdem sei der THS fälschlich „Initiative“ genannt worden. B. bringt sich mit konfusen Antworten selbst in Verdacht, für einen Nachrichtendienst gespitzelt zu haben. Sollte er V-Mann gewesen sein, wäre der THS womöglich von zwei Spitzeln geführt worden. Im Jahr 2001 war der THS-Chef Brandt als langjähriger V-Mann des Thüringer VfS enttarnt worden.

19. Oktober: Ein Polizist berichtet erstmals in der 30. Sitzung des PUA BW, er habe der Kollegin Kiesewetter auf ihren Wunsch hin seine Schicht am Tattat überlassen. Er könne sich nicht an eine Begründung davor erinnern. Nach dem Tod Kiesewetters teilte er seinen Vorgesetzten davon nichts mit, weil er keine psychologische Betreuung bekommen wollte. (Q1)

20. Oktober: 238. Tag: Ein BKA-Mann erläutert Filme aus den vier Überwachungskameras, mit denen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe von ihrer Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße aus die Umgebung beobachteten. Die gezeigten Szenen sind bieder: Zschäpes Katze läuft ins Treppenhaus, Zschäpe selbst trifft eine Mutter mit zwei Kindern. Mutmaßlich handelt es sich um die Familie des Mitangeklagten André E. Zu sehen sind auch Mundlos und Böhnhardt, beide nahezu kahlgeschoren.

Der Strafsenat führt zudem die Vernehmung des ehemaligen rechtsextremen V-Mannes Michael von D. in den Prozess ein. Zwei Richterinnen verlesen das Protokoll des 2014 von BKA und Bundesanwaltschaft geführten Verhörs. Der Ex-Spitzel berichtete, er sei 1998 von einem Thüringer Neonazi gefragt worden, ob er einen Platz wisse, wo drei flüchtige Szeneangehörige hin könnten. Sie würden „wegen Sprengstoffgeschichten“ gesucht. Michael von D. will sofort das BfV informiert haben. Der V-Mann-Führer soll ihn jedoch angewiesen haben, keinen Kontakt zu den drei aufzunehmen, da sich „schon andere“ darum kümmerten. Im November 2011, kurz nach dem Ende des NSU, wurden beim Bundesamt in der umstrittenen Schredderaktion auch Akten zu dem früheren Spitzel mit dem Decknamen „Tarif“ vernichtet.

21. Oktober: Tag 239.: Mundlos und Böhnhardt planten offenbar auch einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim in Nürnberg. Hinweise hätten sich auf einem Stadtplan und einer elektronischen Datei gefunden, sagt ein Beamter des BKA. Auf dem Stadtplan war der Standort der Unterkunft markiert, in der Datei fanden sich passend dazu Bemerkungen wie „Tür offen“. Der BKA-Mann und eine Kollegin erläutern zudem anhand weiterer Stadtpläne und Computerausdrucke, welche Ziele der NSU im Blick hatte. Die Papiere hatte die Polizei im Brandschutt der angezündeten Wohnung in Zwickau sichergestellt. In den teilweise beschädigten Unterlagen entdeckten die Ermittler auch Hinweise auf Taten des NSU. So ist in einem Ausdruck zu Nürnberg handschriftlich „Scharrerstraße“ und „Imbiß“ vermerkt. Nahe der Scharrerstraße hatten Mundlos und Böhnhardt am 9. Juni 2005 Ismail Yasar in seinem Imbiss erschossen. In Auszügen von Stadtplänen von Arnstadt und Eisenach sind die zwei vom NSU im Jahr 2011 überfallenen Filialen der Sparkasse markiert. Mutmaßlich Mundlos und Böhnhardt zeichneten zudem Skizzen mit dem Grundriss der Banken und mehreren Details, beispielsweise dem Standort eines Tresors.

22. Oktober: Ein Ex-Beamter des BKA und eine aktive Polizistin erläutern am 240. Verhandlungstag weiteres Kartenmaterial, das im Brandschutt des Hauses Frühlingsstraße 26 in Zwickau gefunden wurde. Stadtpläne und Adressenlisten verweisen auf Ausspähaktionen des NSU gegen türkische Einrichtungen, aber auch die DKP und weitere potenzielle Anschlagsziele, sowie gegen Geldinstitute. Die beiden Zeugen nennen unter anderem die Städte Kiel, Chemnitz, Stuttgart, Dortmund, Ludwigsburg und Greifswald. Auch seien Bauerhöfe und Denkmäler markiert. Er nennt muslimische Einrichtungen grundsätzlich „islamistisch“. Als Götzl ihn fragt, was er damit meint, sagt der Ruheständler „orientalisch, osmanisch“ und „wir haben Mitbürger, die nicht zum deutschen Volke gehören“.

27. Oktober: Der PUA NRW besucht die Probsteigasse und Keupstraße in Köln. Im Anschluss an die Begehungen der Tatorte treffen die Parlamentarier in einem Café an der Keupstraße die Opfer und ihre Angehörigen sowie Menschen, die sich für die türkisch geprägte Keupstraße engagieren.

Der Fall des Phantom-Opfers „Meral Keskin“ wird mysteriöser. Ein Beamter des BKA berichtet, das reale Opfer Atilla Ö. habe nach eigenen Angaben Post des Oberlandesgerichts München für „Meral Keskin“ erhalten. Der Polizist konnte am Wohnhaus von Atilla Ö. allerdings weder am Briefkasten noch am Klingelschild den Namen des Phantom-Opfers feststellen. In der bizarren Geschichte um Keskin dringen zudem drei der vier Verteidiger Zschäpes weiter auf dienstliche Äußerungen von Götzl und zwei Kollegen. Am Nachmittag verkündet Götzl wieder mehrere Beschlüsse. Anträge von Verteidigern und Nebenklage-Anwälten werden abgelehnt. So bleiben unter anderem die geforderten Zeugenauftritte des hessischen Ministerpräsidenten Bouffier (CDU) und des früheren bayerischen Innenministers Beckstein (CSU) aus. (Q1)

28. Oktober: 242. Tag: Der Angeklagte Holger G., bislang meist eine Randfigur im Prozess, wird von mehreren Opferanwälten attackiert. Sie stellen Beweisanträge, in denen Holger G. vorgehalten wird, er sei nicht, wie von ihm behauptet, 2004 aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen. Holger G. habe weiterhin in Kontakt zu Neonazis gestanden und an einschlägigen Veranstaltungen teilgenommen. Der Angeklagte hatte am 7. Verhandlungstag die ihm von der Bundesanwaltschaft vorgeworfene Unterstützung des NSU gestanden und angegeben, er habe mit dem rechten Milieu gebrochen. Die Opferanwälte fordern vom Strafsenat, Zeugen zu laden, die rechtsextreme Aktivitäten von Holger G. bestätigen könnten. Der Angeklagte selbst folgt der Verlesung der Beweisanträge mit einem spöttischen Grinsen.

30. Oktober: Nur noch fünf Sitzungen ausstehend, beschließt der PUA BW eine Empfehlung für den folgenden Landtag, die Arbeit in einem weiteren PUA fortzusetzen (Q1, Q2). Es wird außerdem bekannt, dass sich zwei bisher unbekannte Zeugen des Heilbronner Attentats beim PUA gemeldet haben (Q1).

Die Vorsitzende der thüringischen Linksfraktion, Susanne Hennig-Wellsow gibt bekannt, dass die Landesregierung eine Vertrauensstelle bei der Landespolizei einrichten wird. An sie sollten sich sowohl Polizisten als auch Bürger*innen wenden können, wenn sie glaubten, es gebe bei der Polizei konkrete Probleme und Missstände.

Stand: 08.11.2021

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