Chronik der Aufklärung (Kapitel 26): Juli 2015 – Anhaltende Verteidigerkrise, Abgründe in Baden-Württemberg

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1. Juli 2015: Erstmals seit Beginn des Prozesses schließt Richter Götzl am 215. Verhandlungstag auf Antrag Wohllebens die Öffentlichkeit aus. Anlass ist die Aussage des Beamten Reiner G. aus dem Brandenburger Innenministerium, der für den Verfassungsschutz den Spitzel Carsten Sz. (Piatto) geführt hatte. Sz. hatte 1998 einen Hinweis auf drei untergetauchte „sächsische Skinheads“ gegeben, die sich bewaffnen wollten. Der vermummt auftretende Beamte gibt allerdings als Zeuge nur wenig von sich. Er schweigt, beruft sich auf Erinnerungslücken oder verstrickt sich in Widersprüche. Götzl hält ihm vor, es gehöre „zur Pflicht eines Beamten, sich vorzubereiten, sich auseinanderzusetzen und sich Gedanken zu machen“.

2. Juli: Politiker aller Bundestags-Fraktionen beraten über die Möglichkeit eines zweiten PUA. Die Möglichkeiten des Innenausschusses seien erschöpft, da vor allem keine Zeugenbefragung aus dem Geheimdienst-Bereich vorgenommen werden könne. Die Opposition aus Grünen und Linke droht mit einem Alleingang.

3. Juli: Der Bundestag verabschiedet im Nachgang der Empfehlungen des PUA BT 1 eine Verfassungsschutz-Reform. Als Lehre aus dem Ermittlungsdesaster werden die Behörden in Bund und Ländern zu einem intensiveren Informationsaustausch verpflichtet. Das BfV soll mehr Befugnisse bekommen und im Zweifel auch in den Ländern operativ eingreifen dürfen. Für den Einsatz von V-Leuten werden im Gesetz erstmals Regeln und Grenzen festgelegt. Wenn es sich um Menschen mit erheblichen Vorstrafen handele, dürfen sie nur noch als V-Leute eingesetzt werden, wenn es zur Abwehr von besonders gefährlichen Bestrebungen unerlässlich ist, sagte Bundesinnenminister de Maizière. Menschen, die wegen Mordes oder Totschlags verurteilt sind, sind ausgeschlossen. Auch für die Bezahlung soll es Grenzen geben. Geregelt wird außerdem, dass diese Quellen bei „szenetypischen“ Delikten von einer Strafverfolgung verschont werden dürfen.

4. Juli: BfV-Präsident Maaßen stellt Strafanzeige gegen Unbekannt bzw. netzpolitik.org wegen der Weitergabe bzw. Veröffentlichung vertraulicher Informationen. Es gehe um die Veröffentlichungen von Teilen des BfV-Wirtschaftsplans 2013 und 2015 sowie um den Prüfbericht von NSU-Sonderermittlers Jerzey Montag. In ersteren wird deutlich, wie stark der VfS die „Massendatenauswertung von Internetinhalten“ ausbauen will.

6. Juli: Zschäpe wird ein vierter Pflichtverteidiger gewährt. Richter Götzl hat den 31-jährigen Münchner Anwalt Mathias Grasel der Angeklagten beigeordnet. Grasel gibt an, „von einem renommierten Strafverteidiger“ unterstützt zu werden. Einen Namen nennt er nicht. Grasel beantragt, den Prozess für drei Wochen zu unterbrechen, um sich einarbeiten zu können. Götzl gewährt eine Woche und zwei weitere Tage im Juli.

Vor dem PUA BW sagen mehrere Zeugen über die stattgefunden Aktivität des KKK in Schwäbisch Hall aus. Über die geringen Disziplinarmaßnahmen gegen betroffene Polizisten heißt es, es hätte damals u.a. nicht in die breite Ermittelt werden sollen.

7. Juli: Auf Bitte der Beauftragten der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Barbara John, wird auf die Befragung des Heilbronner Anschlagsopfers und Polizeikollegen Kiesewetters vor dem PUA BW verzichtet.

9. Juli: Nach einer Reihe von Brandanschlägen auf Partei- und Staatsgebäude wird ein Tatverdächtiger in der Nähe des Kanzleramts festgenommen, wo er kurz zuvor einen brennenden Molotowcocktail auf das Dach warf. Er hat Flugblätter der rechtsextremen Gruppierung „Deutsche Widerstandsbewegung“ (DWB) bei sich, die sich zu den Brandanschlägen bekannte. Auch er gesteht die Taten. Vier Tage später wird er leblos in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis Moabit gefunden. Für ein Fremdverschulden gebe es keine Anzeichen.

14. Juli: Eine Zeugin bringt Zschäpe mit einem kleinen Kind in Verbindung. Ein Mädchen soll dabei gewesen, als mutmaßlich Zschäpe und Böhnhardt im Oktober 2011 in einem Verleih das Wohnmobil abholten, in dem Böhnhardt und Mundlos im November in Eisenach starben. Das Kind habe „Mama“ zu der Frau gesagt, hatte die Angestellte der Firma dem BKA erzählt. Im Prozess kann sich die Zeugin kaum noch an Details erinnern.

Am Nachmittag sagt ein Rechtsextremist aus, der mit dem Angeklagten André E. bekannt ist. Der Zeuge gibt an, E. und sein Zwillingsbruder Maik seien in der Szene „der Dumme und der Schlaue“ genannt worden. André E. grinst.

15. Juli: Tag 218. Ein 61-Jähriger berichtet über den vierten Unterschlupf des 1998 untergetauchten Trios, eine Wohnung in der Wolgograder Allee in Chemnitz. Dort habe auch seine Mutter gewohnt. Zschäpe habe er ab und an im Treppenhaus getroffen. Als sich seine Mutter mal bei der Nachbarin über laute Musik und aus dem Fenster geworfene Zigarettenkippen beschwerte, habe Zschäpe sie aggresiv angefahren. Die Angeklagte folgte dem erneuten Vorwurf der Aggressivität mit genervter Miene. Ein früherer Neonazi-Freund versuchte dagegen, Zschäpe in Schutz zu nehmen – mit einem der bisher dreistesten Auftritte. Marco B., früherer THS-Kader, erschien vor Gericht im Anzug, mit Krawatte und schnittig gegeltem Seitenscheitel. Zschäpe habe sich damals in der rechten Szene „nicht nach oben hervorgetan“, behauptete er. Es kommt zu harten Wortgefechten mit dem Richter.

Die Bild-Zeitung veröffentlicht Angaben zum Youtube-Konto Zschäpes. Die Daten wurden den deutschen Behörden nun doch noch übermittelt, obwohl amerikanische Behörden bereits im September 2012 auf ein Rechtshilfegesuchen mitteilten, dass es keine Daten mehr zum Konto gäbe. Die angesehenen Videos waren überwiegend rechten Inhalts.

17. Juli: Der ehemalige LfVBW-Präsident Rannacher erklärt vor dem PUA BW, dass seine Behörde im KKK-Fall versagt hat. „Auch hier in Baden-Württemberg hat unser austariertes, wenn auch zwangsläufig lückenhaftes Netz von operativen Maßnahmen versagt“. Unter anderem sagt auch der Politikwissenschaftler Hajo Funke aus, der als Vertrauensmann der Familie von Florian H. auftritt. Der unter Zeitdruck stehende PUA wirft ihm vor, Beweismittel zu lange auszuwerten. Ihm wird deshalb unterstellt, er wolle nur für sein jüngstes Buch werben.

20. Juli: Zschäpes Verteidiger Heer, Stahl und Sturm stellen einen Antrag auf Entpflichtung, nennen aber kaum Gründe und verweisen auf die Verschwiegenheitspflicht. Im Falle der Entpflichtung müsste der Prozess wohl neu begonnen werden. Der Senat lehnt den Antrag ab. Die drei Anwälte betonen jedoch, sie sähen sich auch weiterhin außerstande, ihre Mandantin zu verteidigen.

Der PUA BW gibt bekannt, dass im Falle des toten Florian H. neun Zeugen existieren, die der Polizei bekannt waren, jedoch bisher nicht der Staatsanwaltschaft oder dem PUA genannt wurden.

21. Juli: Zschäpe verlangt am 220. Verhandlungstag in einem Antrag die Ablösung von Verteidiger Heer. Außerdem setzt sie durch, dass sich ihre alten Anwälte umsetzen müssen. Der neue Verteidiger nimmt den Platz von Heer ein und sitzt nun am nächsten zum Richtertisch. Grasel stellt jedoch keine Frage, als eine Beamtin des BKA Zschäpe belastet. Auf dem Umschlag einer der Bekenner-DVDs des NSU, die im November 2011 verschickt wurden, fanden sich Fingerabdrücke von Zschäpe.

24. Juli: Der damalige Ermittlungsführer im Fall Kiesewetter, Meyer-Manoras, verteidigt das Vorgehen, damals die Phantombilder nicht zu veröffentlichen und das  damals unbekannte Email-Konto Kiesewetters genauer zu überprüfen. Er bezeichnete die Morde als „Bilanzterrorismus“. Die Mitglieder hätten aus seiner Sicht von vornherein geplant, so lange wie möglich Taten zu begehen und sich dann umzubringen, um „ihre Bilanz der Öffentlichkeit zu präsentieren und möglichst großen Schrecken zu verbreiten“.

Zschäpe stellt Strafanzeige gegen die drei alten Anwälte. Sie sollen die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht verletzt haben. Sie fordert nun auch die Entlassung aller drei. Das Verfahren scheint in einer Zwickmühle zu stecken da die Verteidigung der Angeklagten nicht gut gewährleistet ist. Doch Götzl führt den Prozess fort, als wäre nichts geschehen. Er scheint überzeugt, dass der vierte Pflichtverteidiger ausreicht um einen Neuanfang des Prozesses sowie Revisionsgründe zu verhindern. Eine Entscheidung über den Antrag steht aus.

26. Juli: Die Bundestagsabgeordneten Mihalic (Grüne), Pau (Linke), Högl (SPD) und Binninger (CDU) fordern gemeinsam einen zweiten PUA. „Wir wollen das Behördenhandeln an vielen Stellen noch mal hinterfragen. Und wir wollen das Umfeld des NSU ganz anders durchleuchten“, erklärt Mihalic. Anders als im ersten PUA sollen nun auch V-Leute geladen werden.

27. Juli: Die Bundesregierung gibt (in Drucksache 18/5516) bekannt, dass Ermittlungsbehörden im Rahmen eines sogenannten Strukturermittlungsverfahrens zum NSU bisher 112 Zeugen vernommen haben. Darunter waren auch drei V-Personen des BfV und der VfS-Ämter Hamburg und Thüringen. Zudem wurden drei V-Personenführer des BfV als Zeugen vernommen, und drei Durchsuchungen in Paderborn (25. April 2014), Bielefeld (30. April 2014) und Lübben (5. Februar 2015) vorgenommen. Laut Auskunft der Bundesregierung gibt es keine Ermittlungen gegen Beamte des BfV.

28. Juli: Zschäpe lässt vor Beginn des 221. Verhandlungstages ein handgeschriebenes Blatt verteilen. Es geht darum, ob sie reden wird oder nicht. Und ob sie nicht reden will oder nicht reden darf. Ihre Verteidiger hatten in Gesprächen mit Richter Götzl erklärt, sie hätten Zschäpe nicht zum Schweigen verpflichtet. Als Götzl dies öffentlich berichtete, stellt Zschäpe die Anzeige wegen Geheimnisverrats gegen die Verteidiger.

Das Verfahren setzt die Untersuchung von weiteren Scheinidentitäten des Trios fort.

29. Juli:  Die Staatsanwaltschaft München lehnt es ab, aufgrund der Anzeige vom Vortag gegen Zschäpes Verteidiger zu ermitteln. Es seien keine Straftat zu erkennen.

Tag 222. Der bereits am 1. Juli 2015 erschienene Beamte Reiner G. aus Brandenburg tritt erneut vermummt vor Gericht auf. Nebenklagevertreter Thomas Bliwier bewirkt während der Verhandlung, dass der Zeuge seinen Aktenordner dem Gericht aushändigt. Sobald geklärt ist, ob dieser verwertet werden darf, wird G. erneut vorgeladen.

Die Staatsanwaltschaft Kassel gibt bekannt, ein Ermittlungsverfahren gegen zwei aus rechtsextremen Kreisen stammenden Männer, die mit Schusswaffen gehandelt haben sollen, eingeleitet zu haben. Beide Beschuldigte wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen. Sie stammen aus Hessen und Bayern. Michel F. galt lange Zeit als zentrale Figur der Kasseler Neonazi-Szene, von „Sturm 18“ und Rechtsrock aus Dortmund. F. hatte zudem in einem Verhör behauptet, Mundlos und Böhnhardt 2006 bei einem Konzert der Band „Oidoxie“ in Kassel gesehen zu haben. Das Konzert fand kurz vor der Ermordung von Halit Yozgat statt.

Stand: 11.5.16

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